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WIELAND KRAUSE
TRANSIT_TOKYO

FESTSTELLUNGEN
Zur Kunst von Wieland Krause

Feststellungen sind im juristischen Sprachgebrauch und der Sprechakttheorie Handlun- gen, mit denen ein bestimmter Sachverhalt öffentlich hervorgehoben wird und dadurch von den Beteiligten auch in dieser Form akzeptiert wird. Wörtlich genommen, stellt der Fotograf einen visuell wahrnehmbaren Zustand mit Hilfe einer technischen Einrichtung fest. Diese besondere Eigenschaft der Fotografie nutzen beispielsweise die Dokumen-tationen von Tatorten, die Vedute oder die Warenfotografie, mit je unterschiedlichen Ziel-setzungen. Gleichzeitig hält das Foto einen besonderen Zeitpunkt fest: Tatorte werden weiter untersucht (und so verändert), Waren (besonders Frischwaren) unterliegen dem Wandel ebenso wie Landschaften.*1
Für künstlerische Vorgänge ist eine solche grundsätzliche Akzeptanz von Fakten häufig weniger wichtig. Auf der Suche nach übertragenen Bedeutungen, dem besonderen emo- tionalen Momentum oder der freien Fiktion, verfolgt das Schaffen und die Wahrnehmung von Kunst in der Tendenz immer eher Dynamiken als Sachverhalte. Dennoch macht der Begriff der Feststellung im Bezug auf die Arbeiten von Wieland Krause in mehr als einer Hinsicht Sinn.
Mit dem Foto stellt er nicht nur Sachverhalte für seine eigenen Zwecke fest, sondern bringt in der Ausstellung diese eigenen festgehaltenen Blicke auch in eine Form, die einem Betrachter gegenüber einen gesehenen Sachverhalt materialisiert. Trotz der
heute immer einfacher werdenden Möglichkeit, Fotos zu manipulieren, behaupten ge-
rade Krauses Aufnahmen eine unmanipulierte Authentizität gegenüber dem Objekt. Dadurch beanspruchen sie dem Publikum gegenüber, dass es diesem so gesehenen Sachverhalt zustimmen kann: ja, das ist ein Stück gesehener und festgehaltener Wirk-lichkeit.

Hypothetische Landschaften
Vieles, was Wieland Krause festhält, kann man als Landschaft auffassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich im Bild ein intakt erscheinender Naturraum wie Dürers kleines Ra-senstück findet, ob man dort nach dem Ausgleich zwischen vergesellschafteter Natur und von der Zivilisation verschonten Freiräumen sucht oder ob der Blick von oben auf eine Stadt wie Tokyo Defizite der Vegetation konstatiert. Für den Fotografen bergen alle diese möglichen Blicke das Potential des Landschaftlichen. Dabei ist dieser Begriff be-wusst sehr offen und weit gefasst, als Hypothese und mit dem Wissen um das Ästhe-tische von Landschaft. Gleichzeitig sind diese Fotos weit davon entfernt, sich Illusionen zu machen wie manche Berechnungen von Ökologen, die der Rückkehr des Natürlichen in die Zivilisation gelten und für die ebenfalls der Begriff der hypothetischen Landschaft ins Feld geführt wird.

Augenblicke
Damit stimmt der Betrachter aber zugleich – und möglicherweise zunächst unbemerkt – in eine ganze Reihe von Faktoren ein, die gestalterischer Natur sind. Ausschnitt und Format, Schärfe, Farbgebung über die Wahl des Filmmaterials, Form des Abzugs und Präsentation: in diese Wirkkräfte des Kunstwerks gehen zahlreiche Möglichkeiten ein,
die der Fotograf aus seiner eigenen professionellen Erfahrung kennt und auswählt. Der Künstler nutzt sie, um seinem Augenblick Hilfsmitt el an die Hand zu geben, die sinnfällig und schlüssig sind und die Arbeit über den kurzen ersten Eindruck hinaus weiter zu tra-gen. So zeigen seine detailreichen Mitt elformate und Panoramen eine Komposition, die ebenso einleuchtend wie genau bedacht ist. Nicht selten fallen dabei Bildelemente erst
auf den zweiten Blick ins Auge: ein Motiv, ein Farbkontrast, eine zunächst unscheinbare kompositorische Linie, eine über die Bildschärfe harmonisierte Überbrückung von tiefen Bildräumen, eine optische Reibung an den eingeschliffenen Wahrnehmungsgewohnheit-en.

Ansichtssachen
Megastädte wie Tokyo sind in den Köpfen längst zu Begriffen geworden. Ohne dass man dagewesen sein müsste, löst ihr Name eine Idee aus, wie sich Leben, Atmosphäre und Urbanität dort anfühlen. Allerdings ist gerade Tokyo eine Stadt mit sehr vielen Gesichtern; andere Metropolen haben deutlicher akzentuierte Hauptansichten oder Wahr-zeichen, die von Ferne das Bild der Stadt (und die daran geknüpft en Erwartungen) bestimmen. Aller-dings sind im Gegensatz zu solchen festgelegten Bildern vor Ort die Entwicklungen oft von rasender Dynamik geprägt. Außer einigen unantastbaren Gebäuden und Gebräu-chen steht vieles zur Disposition: das Stadtbild sowieso, aber auch die alltäglichen Le-bensgewohnheiten jenseits dessen, was Reiseführer als typisch herausstellen. Wieland Krauses Projekt Transit_Tokyo ist das bislang ambitionierteste Produkt seiner Arbeit in Metropolen. Anders als die klassischen Formate touristischer Erschließung liegt sein Augenmerk auf den sprechenden Details des Alltags, auf dem Leben jenes Rests Natur, den die Stadt noch zulässt und auf den eigentümlichen Bewegungsflüssen der Megacity. Tokyo vereinigt diese Verdichtung bei gleichzeitig starkem Wandel. Wieland Krause ist in besonderer Weise prädestiniert, sich mit diesen Fragen zu befassen.

Projekt und Archiv
Der in Halle lebende Künstler arbeitet in längerfristigen Projekteinheiten. Dazu gehören Reisen – wie aktuell nach Tokyo oder ein vorausgegangener Aufenthalt in Istanbul, aber auch die Beschäftigung mit einzelnen Objekten wie einem ehemaligen Gewächshaus aus Dessau-Vockerode oder den gepflanzten Windbarrieren des Landschaftsarchitekten Ge- org Pniower. Wie diese Beschäftigung dann Form wird, liegt in entscheidendem Maße an seiner Vorgehensweise. Aus einer überlegten Ruhe heraus sichert Wieland Krause das, was er wahrnimmt, ohne gleich an eine bestimmte Weiterverarbeitung zu denken. Damit ist die Materialsammlung nicht nur Fundus und Ausgangspunkt für weitere Entwicklun- gen, sondern bereits – als Archiv oder als nicht systematisierte Sammlung – auch selbst künstlerische Form.
Dazu tritt ein breites Spektrum an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, über die Krau-se verfügt. So kann aus der gleichen Situation heraus eine Audioarbeit, ein Film oder eine Fotoserie, eine Textarbeit oder eine Skulptur entstehen. Diese Vorgehensweise bringt es mit sich, dass zur Materialsammlung mitunter eine textliche Fassung tritt, die das Wahr-genommene reflektiert und einordnet.

Medien und Transfer
Bekannt geworden ist Wieland Krause mit seinen in hohem Maße ausgearbeiteten Foto- grafien. Er hat die Erfahrungen aus diesem Medium aber inzwischen in anderen künst- lerischen Ausdrucksmitteln ausgebaut. So können seine Soundarbeiten authentisch den vor Ort wahrgenommenen Ton transportieren und dennoch bezaubernd rätselhaft blei-ben. Seine Videoarbeiten reflektieren nicht nur einen Bildgegenstand, sondern auch die eigenen Bewegungen. So erfasst Wieland Krause nicht nur sich selbst in seiner Situ- ation als Wahrnehmender, sondern macht diese Situation des Betrachter-Ichs seinem Publikum zugänglich. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass er in der Medienmetropole Tokyo, einem Zentrum für den wirtschaftlichen Bereich der Consumer Electronics, vergleichsweise häufig die breite Palette seiner Wahrnehmungs- und Ausdrucksmittel nutzt. Gerade in dieser alle Sinne beanspruchenden Herausforderung an die eigene Wahrnehmungsfähigkeit vermitt elt die vom ihm präsentierte Form einen authentischen Widerhall und erlaubt eine weitreichende Reflexion der kulturellen Befindlichkeit dieser Megastadt.

Johannes Stahl

 

* Die Diskussion um den besonderen Moment und seine Darstellung ist ein großes kunst-historisches Thema. An den eilig an Hampstead Heath vorbeiziehenden Wettersituationen arbeitete schon der englische Maler John Constable. Nicht zuletzt die legendäre Faust-Wetterankerte am Festhalten eines Augenblickes.